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Nach der Sexismus-Debatte: Mehr Fragen als Antworten

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Nach der Sexismus-Debatte: Mehr Fragen als Antworten

Das Jahr ist noch keine zwei Monate alt, und die Öffentlichkeit hat schon zwei Mal über Sexismus diskutiert. Was sie sonst nie tut. Jetzt ließ sie sich dazu bewegen durch eine Gruppenvergewaltigung in Indien und durch Brüderles busenfixierte Sprüche in Hotelbar und Kuhstall.

Paradoxerweise haben mich diese vielen Diskussionen in tiefe Ratlosigkeit gestürzt. Da habe ich jahrzehntelang feministische Theorien aufgesogen über Geschlechter und Körperlichkeit; gelernt, dass man nicht sagen sollte, jeder Mann sei ein potentieller Vergewaltiger; wurde gewarnt, dass die weitaus meisten Fälle sexueller Gewalt im Nahbereich stattfinden; habe Selbstverteidigungskurse belegt, Protestbriefe gegen sexistische Werbung geschrieben undundund. Und nun merke ich: Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie all das zusammenhängt.

Bei Rassismus etwa ist das anders. Zum Beispiel bei Islamfeindlichkeit. Latente und manifeste islamfeindliche Einstellungen lassen sich bei einem großen Teil der Bevölkerung nachweisen. Und sie werden durch Medienberichte, -diskussionen und -stereotype verstärkt oder getriggert. Etliche Institutionen und Gesetze setzen unterschiedliche Religionen und ethnische Herkünfte hierarchisch zueinander ins Verhältnis.

Nun werden bei weitem nicht alle Menschen, die eine islamfeindliche Einstellung haben, gewalttätig. Es kommen individuelle Faktoren wie Lebenssituation und allgemeinen Gewaltdisposition hinzu; dennoch ist davon auszugehen, dass die rechtsradikale Gewalt Einiger vom rechtslastigen Gedankengut einer breiteren gesellschaftlichen Gruppe genährt wird.

Versuche ich dieses Erklärungsmuster auf Sexismus und sexuelle Gewalt zu übertragen, gerate ich ins Schwimmen. Auf den ersten Blick liegen die Fälle halbwegs analog: Es gibt sexistische Einstellungen, Werbung und mediale Repräsentationen; gesellschaftliche Institutionen, Praktiken und Hierarchien prägen die Kluft zwischen den Geschlechtern.

Und wie hängt das alles zusammen? Neigen denn allgemein gewalttätige Männer[1] auch vermehrt zu sexueller Gewalt? Was ist überhaupt das Hauptmotiv der Vergewaltigungen – Sex („Triebstau“-These) oder Macht („Vergewaltigung ist kein Sex“)? Wenn es eventuell völlig unterschiedliche Motive von Vergewaltigung gibt, existiert dann vielleicht nicht der eine Sexismus-Zusammenhang? Ist anzunehmen, dass Vergewaltigungen seltener würden, wenn Frauen nicht nach wie vor so sehr über ihre (schönen, begehrenswerten) Körper identifiziert würden?

Sexueller Kindesmissbrauch wird vor allem von Heranwachsenden begangen, die keine Pädophilen sind.[2] Warum tun sie es also – und haben sie dabei keine Skrupel? Waren sie vor der Tat entsprechenden Bildern ausgesetzt? Grundsätzlich: Gibt es denn nun erwiesene Zusammenhänge zwischen dem Gebrauch von Pornografie, der Inanspruchnahme von Prostituierten und sexueller Gewalt?[3]

Wird schließlich der psychische Schaden, den Vergewaltigungen anrichten, auch dadurch verstärkt, dass wir Mädchen stärker vor aggressiven Interaktionen behüten als Jungen und ihnen damit das Gefühl körperlicher Schutzlosigkeit einimpfen? Sind sexuelle Gewalterfahrungen automatisch stärker traumatisierend als „bloßes“ Schlagen? Stimmt es, dass sich viele Vergewaltiger bereits durch die entschiedene Ansprache abschrecken lassen (das habe ich neulich gelesen) oder ist es besser, sich ruhig zu verhalten (habe ich kurz danach woanders gelesen)?

Biologistische Thesen („Männer sind so veranlagt, es ist das Testosteron“) disqualifizieren sich bereits im Vorfeld. Kulturalistische Thesen allerdings („Unsere Gesellschaft bringt uns bei, dass Frauen Objekte männlichen Begehrens sind“) sind nicht beliebt. Sobald jemand Letzteres versucht, wird ihr Dogmatismus vorgeworfen und eine lila Latzhose angedichtet. Biologistisch wollen wir nicht, kulturalistisch dürfen wir nicht – kein Wunder, wenn wir nicht sagen können, wie sexuelle Gewalt entsteht.

Trotzdem: Viele der obigen Fragen sind schlicht empirischer Natur. Das müssten kluge Leute doch längst erforscht haben! Und solche Ergebnisse dürfen kein akademisches Geheimwissen bleiben. Es gibt ja auch Broschüren zu Empfängnisverhütung und Kariesprophylaxe. Und irgendwer – die Krankenkassen, das Familienministerium oder die Bundeszentrale für politische Bildung – müsste es doch hinbekommen, Frauen und Männern auch über sexuelle Gewalt zu informieren. Ambros Waibel hat kürzlich in der taz geschrieben, er vermisse einen gesellschaftlichen Masterplan gegen sexuelle Gewalt. Ja, wir brauchen so einen Masterplan, aber dazu müsste uns erst mal klar sein, wo sie herkommt. Wir haben ein Recht darauf, das zu wissen.

 

[1] In der Studie des Ministeriums für Familien, Senioren, Gesundheit und Frauen zur „Lebenssicherheit, Sicherheit und Gesundheit von Frauen“ (2004) steht: 99% der Täter seien Männer, auf die weibliche Form werde daher verzichtet.

[2] http://www.rundertisch-kindesmissbrauch.de/documents/Impulsvortrag_VolbertundGalow_000.pdf

[3]  Ziemlich verstörend in diesem Zusammenhang: http://www.surrey.ac.uk/mediacentre/press/2011/69535_are_sex_offenders_…